Wenn Nähe schadet
PODIUMSGESPRÄCH ÜBER GEISTLICHEN MISSBRAUCH
Die Katholische Erwachsenenbildung Limburg und Wetzlar, Lahn-Dill-Eder (KEB) berichtet über die gemeinsame Veranstaltung mit dem Frauenbüro der Stadt Limburg sowie der Fachstelle gegen Gewalt im Bistum Limburg und dem kfd Diözesanverband Limburg.
Wenn Nähe schadet, beginnt oft ein leiser Prozess, der sich erst rückblickend als systematische Grenzüberschreitung erkennen lässt. Das Podiumsgespräch im Historischen Sitzungssaal des Limburger Rathauses widmete sich einem Thema, das selten öffentlich verhandelt wird, obwohl die Mechanismen vielen vertraut vorkommen: Wie Gemeinschaften toxisch werden können, wie Menschen in Abhängigkeit geraten und welche Wege es zurück in die Freiheit gibt. Souverän führte Johannes Schröer vom Domradio in Köln durch den Abend und strukturierte die vielschichtigen Perspektiven.
Mechanismen geistlichen Missbrauchs
Besonders im Fokus stand der geistliche Missbrauch, der im kirchlichen Kontext, aber auch in Vereinen, Familien oder informellen Gruppen auftreten kann. Stephanie Butenkemper, Autorin und systemische Therapeutin, beschrieb eindrücklich, wie Missbrauch im Geistlichen seinen Anfang nimmt. Immer liege eine asymmetrische Machtstruktur zugrunde: Eine Person nimmt die Rolle der Kontrollierenden ein, während die anvertraute Person Schritt für Schritt in eine Abhängigkeit gerät. Vertrauen werde instrumentalisiert, ein Individuum werde überwacht, bis es kaum mehr eigenständig handeln könne. Geistlicher Missbrauch sei dabei häufig nicht das Ende, sondern eine Vorstufe zu sexualisierter Gewalt. Für Betroffene sei es enorm schwer, über das Erlebte zu sprechen. Scham und das Gefühl, selbst Mitschuld zu tragen, ließen viele schweigen. Doch gerade das Aussprechen könne heilsam wirken, weil es das, was im Verborgenen Macht ausübt, ans Licht hole. Toxische Systeme, erläuterte sie weiter, arbeiteten oft mit stark vereinfachten Weltbildern. Sie suggerierten ihren Mitgliedern, im Besitz der Wahrheit zu sein und auf der richtigen Seite zu stehen. Je klarer das Schwarz-Weiß, desto stärker die Bindung und desto größer die Gefahr, dass die Freiheit des Einzelnen unter die Räder gerät.
Ein Problem aller Kirchen
Die evangelische Pröpstin Sabine Bertram-Schäfer machte deutlich, dass Missbrauch nicht nur ein Problem der katholischen Kirche sei. Die evangelische Kirche habe lange geglaubt, durch ihre weniger hierarchischen Strukturen weniger anfällig für Machtmissbrauch zu sein. Heute wisse man, dass das ein Irrtum gewesen sei. Auch sie sei betroffen, und die Auseinandersetzung mit den eigenen blinden Flecken sei mehr als überfällig. Entscheidend sei, sich der Gefahr des Machtmissbrauchs immer wieder bewusst zu werden. Das brauche kontinuierliche Schulungen, Sensibilisierung und klare Orientierungspunkte: Liebe, Zuwendung und Verantwortung seien zentrale Anliegen kirchlicher Begleitung. Die Frage müsse jedoch wach bleiben, ab wann Zuwendung zu Kontrolle und Fürsorge zu Grenzüberschreitung werde. Wo endet die Freiheit, wo beginnt die Manipulation?
Die Faszination charismatischer Führung
Prof. Dr. Hildegard Wustmans, Bischöflich Bevollmächtigte im Bistum Limburg, blickte auf die Dynamiken in kirchlichen Gemeinschaften und die Faszination charismatischer Führungspersönlichkeiten. Täter träten häufig als Menschen auf, die scheinbar genau wüssten, was richtig und was falsch ist. Das wirke anziehend, gerade für Menschen in Krisen oder Orientierungslosigkeit. Wustmans betonte, dass niemand Nähe und Gemeinschaft pauschal in Frage stelle. Entscheidend sei vielmehr die Gestaltung. Man müsse hellhörig werden, wenn jemand behaupte, im Namen Gottes zu sprechen oder genau zu wissen, was Gott wolle. Geistlicher Missbrauch habe viele Erscheinungsformen: Er könne Betroffene systematisch von Freundschaften, Familienbindungen und alternativen Bezugspunkten trennen, bis das soziale Netz so dünn geworden sei, dass Kritik oder Ausstieg kaum mehr möglich scheinen.
Mut zur Entscheidung
Mit Blick auf institutionelle Verantwortung machte Butenkemper deutlich, dass es konsequente und mutige Entscheidungen brauche. Die Grauzonen seien groß, die Beweisbarkeit oft schwierig, gerade deshalb fühlten sich Täterinnen und Täter in ihrem Agieren häufig sicher. Führungspersonen müssten Haltung zeigen, sagte sie und verwies auf den Umgang des Bischofs in Münster als Beispiel dafür, dass klare Entscheidungen notwendig seien, um Betroffene zu schützen und ein deutliches Zeichen gegen Machtmissbrauch zu setzen.
Was Betroffenen wirklich hilft
Am Ende des Abends rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie Betroffenen konkret geholfen werden kann. Kritik von außen, darüber herrschte Einigkeit, verschließe häufig eher Türen. Wer in toxischen Strukturen gefangen ist, ziehe sich zurück, wenn Außenstehende die eigene Welt infrage stellen. Befreiung könne deshalb niemals verordnet werden, sie müsse von innen wachsen. Oft sei es ein totaler Zusammenbruch, körperlich wie emotional, der den ersten Riss in der Fassade bedeute. Dann brauche es Menschen, die bleiben. Menschen, die die Verbindung halten, die aushalten, dass Hilfe manchmal nur im geduldigen Dasein besteht. Es gebe keine schnelle Lösung, keine Anleitung zur Rettung. Man könne eigentlich nicht viel tun, außer da zu sein. Genau darin liege jedoch eine stille, aber wirksame Solidarität: der Kontakt, der nicht abreißt, selbst wenn das Gegenüber noch nicht bereit ist, ihn zu nutzen.