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Datum: 10.11.2022

9. November: Trauer um die Limburger NS-Opfer

200 brennende Kerzen auf dem Europaplatz für 197 bisher bekannte Opfer des nationalsozialistischen Regimes aus Limburg und den Stadtteilen, drei Kerzen für noch unbekannte Opfer. Die Stadt Limburg hatte am 9. November zu einer kleinen Gedenkveranstaltung eingeladen, die zum Abschluss noch zum Standort der am 9./10. November 1938 zerstörten Synagoge auf der Schiede führte.

„Vielen Dank, dass Sie da sind und die Erinnerung an die Geschehnisse des 9. November 1938 mit uns teilen“, begrüßte Bürgermeister Dr. Marius Hahn eine kleine Schar an Gästen. Er erinnerte daran, dass jüdisches Leben seit 1278 in Limburg nachweisbar ist und jüdische Bürger in der langen Geschichte wichtige Aufgaben in der Limburger Stadtgesellschaft und der Wirtschaft übernahmen, sich in das Miteinander einbrachten, dem Gemeinwohl dienten. Allein sieben Synagogen und deren Standorte seien heute bekannt und die Einweihung des Gotteshauses auf der Schiede im September 1903 sei ein Fest für die ganz Stadt gewesen.

Das alles änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Ihre Herrschaft, die in den 2. Weltkrieg führte und mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete, habe in Limburg und den Stadtteilen zu bisher 197 bekannten Opfern geführt. Opfer seien dabei nicht nur jüdische Bürgerinnen und Bürger gewesen, sondern auch Gewerkschafter, politisch Andersdenkende, erkrankte Personen oder Menschen, die aufgrund ihres Glaubens ermordet wurden oder in den Augen der Machthaber Verbrechen begangen hatten. „Das erste Opfer nationalsozialistischer Gewalt aus Limburg war 1935 der zu dieser Zeit in Frankfurt lebende Sozialdemokrat Wilhelm Ohl, der im KZ Esterwegen starb“, erinnerte der Bürgermeister, nach dessen Einschätzung eine Teilnahme der Politik am Gedenken an den 9. November 1938 ausbaufähig ist.

Seit 1998 wieder eine jüdische Gemeinde

„Wir trauern noch immer um die vielen Frauen, Männer und Kinder“, erklärte Elena Kopirovskaja als Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Limburg-Weilburg. Für sie ist das Erinnern an die Gräueltaten der Nationalsozialisten eine unverzichtbare Voraussetzung, um eine Wiederholung zu verhindern. Nach der Auslöschung jüdischen Gemeindelebens in Limburg gibt es seit 1998 wieder eine jüdische Gemeinde, deren Mitglieder sich in die Tradition jüdischen Lebens in der Stadt einbringen wollen. „Dass sich die Angriffe und Zerstörung am 9. November 1938 ganz gezielt gegen die über 1400 Synagogen und Betstuben in Deutschland richteten hatte das Ziel, den Glauben an unseren Gott auszulöschen. Das ist nicht gelungen“, sagte die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, die dazu einlud, im Anschluss an die Feierstunde auch den Standort der ehemaligen Synagoge aufzusuchen und dort der Ermordeten und Geflüchteten zu gedenken.

An die Wiederaufnahme der Kontakte von geflüchteten jüdischen Bürgerinnen und Bürger in ihre alte Heimat und den dort lebenden Menschen erinnerte Christa Pullmann, langjährige Vorsitzende und Initiatorin der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit im Landkreis und heutige Ehrenvorsitzende. Einer derer, die den Kontakt früh suchten, war Lee Liebmann, erinnerte sie sich. Und der erste Besuch von ihm in Limburg war für ihn keineswegs ermutigend. Das habe sich erst im Verlauf der 1970er Jahre geändert, so dass Liebmann einen regelmäßigen Kontakt suchte, viele Verbindungen aufbaute und aktive Versöhnungsarbeit leistete.

Bevor die Namen der 197 Opfer des NS-Regimes, ohne die zivilen und militärischen Opfer des 2. Weltkrieges, von Auszubildenden der Stadtverwaltung verlesen wurde, erinnerte Stadtarchivar Dr. Christoph Waldecker anhand von drei Einzelschicksalen an das Leid und das Schicksal von Karl-Heinz Grill, Liane Zipporah Moses und Eduard Ossowski.

Biografien der Opfer

Karl-Heinz Grill wurde am 27. Dezember 1913 in Limburg als Sohn des Kaufmanns und späteren Angestellten Peter Josef Grill und der Helene Grill geb. Schröder geboren und katholisch getauft. Bei der Geburt war seine Schädeldecke eingedrückt worden, so dass er bleibende Schäden davontrug. Später wurde ihm allerdings – in der Diktion der Zeit – „erblicher Schwachsinn“ attestiert.

Als Fünfjähriger kam er ins St. Vincenzstift nach Aulhausen. Dort besuchte er die Schule und zeigte später ein auffälliges gärtnerisches und musikalisches Talent.

1934 wurde Karl-Heinz Grill aufgrund des Gesetzes über die Verhütung erbkranken Nachwuchses in Wiesbaden sterilisiert. 1937 fand er Aufnahme im Kalmenhof in Idstein. Am 11. März 1941 erhielten die Eltern die Nachricht, ihr Sohn sei in eine andere Anstalt verlegt, ohne Angabe, in welche. Seine Mutter fuhr nach Idstein und verlangte Auskunft. Ihr wurde mitgeteilt, sie solle denken, ihr Sohn sei an der Front gefallen. Zwei Wochen später erhielt die Familie die Nachricht, Karl-Heinz Grill sei in der Anstalt Pirna-Sonnenstein in Sachsen gestorben. Tatsächlich war er bereits am 11. März 1941 in Hadamar ermordet worden. Er wurde 27 Jahre alt. Weil Helene Grill offen darüber sprach, nahm die Gestapo sie fest.

Auf die Zusendung einer Urne mit Asche verzichteten die Eltern. Ihnen war bewusst, dass diese nicht die Überreste ihres Sohnes enthalten würde.

Im August 1946 richtete Peter Josef Grill einen Antrag an den Bürgermeister: „Im Jahr 1941 wurde … mein Sohn Karl-Heinz, der geistig etwas schwach war, durch die damalige Regierung beseitigt. … Meine Frau leidet immer noch sehr darunter, daß sie kein Grab von dem Kinde hat. Deshalb bitte ich um Überweisung eines Begräbnisplatzes für mich und meine Frau. Wir wollen da zum Gedenken an unseren Sohn eine Platte aufstellen lassen.“ Bürgermeister Schneider gab dem Antrag statt.

Karl-Heinz Grill war nicht das einzige Mitglied seiner Familie, das durch die Nazis gewaltsam zu Tode kam. Seine Cousine Margarete Adam geb. Grill wurde am 1. Juli 1944 in der Anstalt Eichberg im Rheingau ermordet.

Opfer mit 14 Jahren    

Liane Zipporah Moses wurde am 25. Oktober 1928 in Güstrow als Tochter des Max Moses und der Grete Moses geb. Simon geboren. Sie hatte einen älteren Bruder, den 1924 in Güstrow geborenen Werner. Nach dem frühen Tod des Vaters kam Liane Moses im Alter von wenigen Monaten nach Limburg. Sie wurde mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in den Haushalt ihrer Verwandten Hermann und Jacobine Goldschmidt aufgenommen. Ab dem 1. April 1935 besuchte sie die Volksschule.

Nachdem Lianes Mutter um die Jahreswende 1933/34 Deutschland verlassen hatte und in die Niederlande geflohen war, blieb die Fünfjährige in Limburg. Margarethe Moses schilderte den Grund 1939 in einem Brief an die niederländischen Behörden: „ … konnte ich aus Dankbarkeit für all das, was mein Onkel mir Gutes getan hatte, ihm seinen Sonnenstrahl nicht wegnehmen.“

Am 15. Oktober 1938 musste Liane Moses die Schule verlassen. Sie erlebte die Ausschreitungen der „Kristallnacht“ im November, bei der es auch Übergriffe auf Wohnung und Geschäft ihrer Verwandten gab. Die Zehnjährige wurde für drei Tage ins Gefängnis gesperrt. Im Dezember 1938 gelang es, Liane Moses in die Niederlande zu schicken. Hier durfte sie aber nicht sofort zu ihrer Mutter, sondern wurde zunächst im Kinderheim Nederlands-Israëlitisch Meisjesweeshuis in der Rapenburgerstraat Amsterdam, dann in Losser nahe der deutschen Grenze unter Quarantäne gestellt. Erst nachdem Margarethe Moses mehrere Eingaben an die Behörden gemacht hatte, durfte ihre Tochter bei ihr wohnen.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in den Niederlanden wurden Mutter und Tochter in Westerbork interniert. Am 20. April 1943 wurden die 14-jährige Liane Moses und ihre Mutter Grete Moses nach Sobibor deportiert und nach der Ankunft am 23. April 1943 ermordet. Liane Moses‘ Bruder Werner war bereits am 25. August 1942 in Auschwitz ermordet worden.

Gestorben an den Folgen der Haft

Eduard Ossowski wurde am 3. Juli 1878 in Strugo in Westpreußen geboren. Er trat als junger Mann in die Gemeinschaft der Pallottiner ein und legte 1904 die Profess ab. Künftig war er Bruder Eduard Ossowski. Zuvor hatte er das Maurerhandwerk erlernt und seinen Militärdienst abgeleistet. Im Ersten Weltkrieg wurde er zur Artillerie eingezogen und erhielt das Eiserne Kreuz. Nach dem Krieg war er für die Gemeinschaft als Maurer tätig, bis ihm seine Gesundheit dies nicht mehr erlaubte. Fortan arbeitete er in der Küche, erst in Schönstatt, dann in Limburg. Hier wurde er im Dezember 1942 von der Gestapo verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, er habe verbotener Weise Umgang mit Kriegsgefangenen gehabt.

In der Gerichtsakte ist zu lesen: „Der Angeklagte hat während des Krieges in Limburg fortgesetzt gehässige und von niedriger Gesinnung zeugende Äusserungen über leitende Persönlichkeiten des Staates sich zuschulden kommen lassen. Er hat ferner von französischen Kriegsgefangenen Geschenke angenommen und sich mit ihnen über das Kriegsgeschehen unterhalten.“

Er kam ins Gefängnis Frankfurt-Preungesheim und wurde am 17. September 1943 wegen Verstoß gegen das Heimtückegesetz und die Wehrkraftschutzverordnung zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Danach sollte er wegen angeblicher „geistiger Unzurechnungsfähigkeit“ in eine Heilanstalt gebracht werden. Bruder Eduard Ossowski starb am 14. Januar 1944 im Gefängnis Preungesheim an den Folgen der Haft. Vermutlich ist er verhungert.

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